Ulrich Mosch gen der Musik nachzuspüren, und interessiert sich dabei besonders für strukturierte tierische Lautäußerungen, die der Kommunikation die nen, wie eben der Gesang der Singvögel oder auch jener der Wale und Delphine.2 Zur Funktion von Tierlauten im Schaffen von Tiessen, Dass Komponisten als geschulte Hörer Ästhetisches Korrektiv Vgl. dazu etwa W. Tecumseh Fitch, The Evolution of Music in Comparative Perspective, in: The Neurosciences and Music II: From Perception to Performance (Annals of the New York Academy of Sciences, Bd. 1060), New York 2005, S. 29–49, sowie den Sammelband The Origins of Music, hrsg. von Nils Lennart Wallin u.a., Cambridge, Mass.: MIT Press 2000. Ernst Lichtenhahn, Die Klangwelt der frühen Menschen, in: ders. und Hans A. Traber, Tiere und Musik. Vom Tönen der Tiere zur Musik des Menschen, Zürich: Hug 1982, S. 20. 20 Messiaen und Delz N N eben menschenverursachten technischen Geräuschen ist unsere akustische Umwelt geprägt von den verschiedensten Geräuschen der unbelebten Natur: dem Plätschern eines Bachs, der Brandung am Meer, dem Heulen des Windes oder dem Grollen des Donnerns, dem Getöse eines Steinschlags oder dem Knacken von Holz in der Sonne. Zu unserer natürlichen akustischen Umgebung gehören aber genauso auch die vielfältigen Laute, die Tiere aller Art von sich geben, sei es bei der Balz, Brunft und Paarung oder seien es Laute des Behagens oder Signale zur Warnung der Artgenossen vor Feinden oder Geschrei zur Einschüchterung von Gegnern oder seien es Laute zur Kommunikation untereinander. Unter den Tieren gibt es Arten, die Laute nicht nur instinktiv erzeugen, sondern auf ihre Klangumgebung durch Bereicherung ihres Lautrepertoires direkt reagieren und ein er lerntes Repertoire kennen. Bei manchen Sing vogelarten ist die gesangliche »Eloquenz« ein Selektionskriterium bei der Arterhaltung. Wale gar kennen richtiggehende »Hits«. Auf die je nach Weltgegend durchaus sehr unterschiedliche natürliche und insbesondere die tierische Lautwelt hat der Mensch seit jeher reagiert: mit seiner eigenen Stimme, nicht selten aber auch mit einem Klang- oder Schallwerkzeug. Und darin vermutet man einen der Ursprünge der Musik. Die Antwort des Menschen ist indessen nicht nur Nachahmung der Laute der Natur, kein bloßes Echo. Immer spreche der Mensch, wie Ernst Lichtenhahn es ausgedrückt hat, auch »in antwortenden Tönen sich selber aus, sein eigenes Erlebnis und Gefühl«.1 Da auf Grund der Flüchtigkeit der Musik zwangsläufig keine Tondokumente aus der Zeit vor der Erfindung der Klangreproduktion überliefert sind, ist man, was den Ursprung der Musik in der Frühzeit der Menschheitsgeschichte, auf Extrapolationen auf der Basis ethnologischer Forschungen an anders entwickelten Kulturen als der unseren angewiesen. In jüngster Zeit ist diese tierische Klangwelt auch in den Fokus einer sich langsam etablierenden Richtung der systematischen Musikwissenschaft gerückt, der so genannten »biomusicology«. Auch sie versucht, mit vergleichenden Methoden den Ursprün diese natürliche Klangumwelt teilweise als »musikalisch« wahrnehmen, insbesondere dort, wo man es mit strukturierten Lautfolgen zu tun hat, die der Kommunikation dienen, liegt nahe. Auch wenn es klar ist, dass es sich wohl bloß um eine Projektion des Menschen handelt – schon Vogellaute als Gesang zu bezeichnen ist eine anthropomorphisierende Übertragung –, erscheinen die Klangfolgen als »Musik«. Dabei hängt die Antwort auf die Frage, ob es sich bei diesen Klängen tatsächlich um Musik handele oder nicht, wesentlich auch vom Musikbegriff ab: Aus dem Blickwinkel eines allein vom wahrnehmenden Subjekt aus fundierten Begriffs wie dem des John Cage von 4‘33“, dem im Prinzip jeder Klang Musik sein kann, wäre es zweifellos welche; aus der Perspektive eines objektiv fundierten Begriffs hingegen, für den es vielleicht die Erfüllung bestimmter tonsystemlicher Anforderungen und wenigstens eines Urhebers der Klänge bedarf, wäre der Begriff Musik hier selbstverständlich nur eine Analogie. Man braucht sich auf diese Frage letztendlich aber gar nicht einzulassen, denn für Komponisten ist diese Klangwelt, wo sie sich damit künstlerisch auseinandersetzen, meist nur Material, das erst der »Verarbeitung« bedarf, um tatsächlich Musik zu werden. Entsprechend sind Musikstücke, die sich von den Lauten der Tierwelt haben inspirieren lassen, keine Protokolle, sondern nach künstlerischen Gesichtspunkten strukturierte Kompositionen. Fragt man danach, warum sich Komponisten für diese Lautwelt interessieren, so ist es neben der außerordentlichen Vielfalt und Schönheit vieler Klangfolgen insbesondere das Faktum, dass sie nicht irgendwelchen, von Menschen gemachten Regeln folgen, sondern allein ihren eigenen Gesetzen. Eben deshalb vermögen sie zugleich Inspirationsquelle zu sein wie auch eine kritische Funktion in Bezug auf eingefahrene Gleise der musikalischen Erfindung und Imagination zu erfüllen. Die Beschäftigung mit der tierischen Klangwelt bietet Möglichkeiten, die eigene musikalische Sprache, sofern noch in entsprechenden Kategorien gedacht, zu bereichern und zu erweitern und zwar sowohl in melodischer als auch in rhythmischer und klangfarblicher Hinsicht. Dies soll im Folgenden an drei Beispielen illustriert werden. Heinz Tiessen Ein Komponist, der sich bereits früh für Vogelgesänge interessierte und ganz ohne technische Hilfsmittel über Jahrzehnte hinweg in Form von Notaten Melodien hauptsächlich von Amseln sammelte, ist der heute klingend nur noch selten im Konzertleben anzutreffende Heinz Tiessen (1887-1971), der viele Jahre als Kompositionslehrer an der Hochschule der Künste in Berlin wirkte. Unter dem Titel Musik der Natur veröffentlichte er 1953 ein kleines Büchlein »über den Gesang der Amsel und anderer Singvögel«,3 so der Untertitel, in dem er eigenes, seit 1909 gesammeltes, empirisches Material unter Bezug auf einschlägige ornithologische Literatur aufarbeitete. Im Mittelpunkt steht dabei die neben der Nachtigall – was den Gesang betrifft – unter den Singvogelarten am höchsten entwickelte Amsel. Der Gesang dieses Vogels interessierte ihn einerseits wegen der faszinierenden Vielfalt und Prägnanz der Melodien, andererseits aber auch auf Grund der ästhetischen Qualitäten. Es verwundert daher nicht, dass solche Melodien auch in seine Musik Eingang fanden. Bereits 1915 schrieb Tiessen ein Klavierstück mit dem Titel Die Amsel, das als zweites in den 1923 publizierten Drei Klavierstücke op. 31 aufgegangen ist. Eines der melodischen Hauptmotive dieses Stücks bildet die Melodie einer Amsel aus dem oberbayerischen Hechendorf am Pilsensee, notiert am 21. Juni 1914. Das eigentliche Potenzial der Beschäftigung mit der Klangwelt der Vögel sah Tiessen aber offenbar in der »Unbekümmertheit « der Vögel – so kann man indirekt aus Kommentaren zu abwertenden Urteilen über den Gesang der Amsel in der ornithologischen Literatur schließen, welche in seinen Augen allzu enge ästhetische Prämissen erkennen lassen: Sie scheren sich eben nicht um »Tonsatzregeln «.4 »Unsere menschliche Musiklogik durchdringt«, so Tiessen »nicht das Gesamtbild des Amselgesanges. Vielleicht beruht hierauf zugleich unser Glücksgefühl, wie im Empfangen jedes Natureindrucks: einer dem Menschen nicht fassbaren Unbegrenztheit gegenüberzustehen.«5 Und eben darin liegt die Möglichkeit, aus eingefahrenen Vorstellungs- und Erfindungsmustern auszubrechen. Einen Nebenaspekt, nämlich den Wandel des Gesangs durch Veränderungen der akustischen Umwelt, der gerade heute, in einer Zeit mit einer noch nie dagewesenen Durchdringung der akustischen Umwelt mit reproduzierter Musik, auch kulturhistorisch von besonderem Interesse wäre, berührt Tiessen zwar, wenn er darauf hinweist, dass in reizärmeren Gegenden auch der Gesang der Amsel weniger reich ist. Er spürt diesem Aspekt aber anhand seines Materials nicht nach, obwohl man gerade hier interessante Rückkoppelungseffekte von Kultur und Natur vermuten könnte. Olivier Messiaen Tiessen galt die Natur in Gestalt des Gesangs der Singvögel als nicht zu lüftendes »Geheimnis der Existenz« – bei dem eine Generation jüngeren und tiefgläubigen Olivier Messiaen (1908-1992) war die Natur und damit auch die Welt der Singvögel und ihr Gesang Emanation des Göttlichen. Für Messiaen war es daher ganz selbstverständlich, sich von den Klängen der Natur anregen zu lassen, die, wie alle anderen Äußerungen der Natur, als Manifestationen des Göttlichen jenen des Menschen in nichts nachstehen. Anders als Tiessen machte er aber von Vogelgesängen nicht nur Gelegenheitsnotizen. Das Sammeln hatte bei ihm einen systematischen Charakter: Lange Zeit fuhr er jährlich im Frühjahr zwei Wochen zur Forschung in die verschiedenen Regionen Frankreichs. Auch bei Messiaen, der zunächst immer direkt mit Notizblock und Bleistift in die Natur ging und bewusst keine technischen Hilfsmittel verwendete, versteht sich, dass er eben deshalb die Gesänge bereits durch den Filter des Als-Musik-Wahrnehmens aufnahm, das heißt schon bei der Transkription den ersten Schritt zur Transformation machte. Später zog er für komplizierte und schnelle Passagen zwar gelegentlich auch das Tonbandgerät heran, allerdings mit einer gehörigen Portion Skepsis gegenüber dem Medium, da es der unendlichen Variabilität des Vogelgesangs nicht Rechnung tragen und immer nur eine Ausprägung reproduzieren kann. Er selbst begegnete dem Problem mit der Konstruktion eines »idealen Vogels«,6 der diese Vielfalt einzufangen suchte. Da der Vogelgesang nicht allein hinsichtlich Tonhöhen und Rhythmus strukturiert ist, sondern auch, was die Klangfarbe betrifft, bedarf es fast zwangsläufig der Verwendung verschiedener Notationsebenen, nämlich die Musiknotation für Tonhöhe und Rhythmus und eine onomatopoetische Notation, meist in Form einer rhythmisierten Silbenfolge, mit der Klangfarben dargestellt werden. Entsprechend setzte sich Messiaen, wie übrigens auch Tiessen, ein Stück weit intensiv mit Fragen der adäquaten Notation und Transkription auseinander.7 Musikalisch war das Ziel Messiaens, wie es Jan Simon Grintsch formuliert hat, »die systematische Suche nach kompositorischem Material, das frei von musikalischer Tradition war«.8 Letzten Endes hängt die Auseinander 3 Heinz Tiessen, Die Musik der Natur. Über den Gesang der Amsel und anderer Singvögel, Zürich: Atlantis [1953] 1989. 6 Vgl. dazu wie überhaupt zum Thema »Messiaen und Vögel « von Jan Simon Grintsch, Das Diktat der Vögel. Olivier Messiaen als Ornithologe und Komponist, in: Kompositorische Stationen des 20. Jahrhunderts (Signale aus Köln. Beiträge zur Musik der Zeit, Bd. 7), hrsg. von Christoph von Blumröder, LIT: Münster 2004, S. 35-45. 4 Auf S. 100f. ebd. heißt es: »Stehen die Amselmotive unserer Menschenmusik auch besonders nahe, so dürfen wir doch nicht in den Fehler verfallen, die Amseln nun als mehr oder weniger fortgeschrittene Tonsatzschüler anzusehen …« (Hervorhebung U.M.). 5 Ebd., S. 101. 7 Zur Transkriptionsproblematik siehe ausführlich ebd. 8 Ebd., S. 45. 9 Almut Rößler, Beiträge zur geistigen Welt Messiaens, Duisburg: Gilles und Francke 1984, zitiert nach: Jan Simon Grintsch, Das Diktat der Vögel, siehe Anm. 6, S. 45. 10 Vgl. dazu Thomas Gartmann, Insekten oder die re-komponierten Welten von Christoph Delz, in: Positionen. Beiträge zur Neuen Musik, Nr. 45 (November 2000), S. 11–13. setzung mit der Klangwelt der Vögel also auch mit der Last des historischen Erbes zusammen und mit der Prägung der kompositorischen Fantasie durch diese klingend allgegenwärtige Fülle aus vergangener Zeit. Die Beschäftigung mit der natürlichen Klangwelt hat für ihn die Funktion des Aufbrechens von eingefahrenen Gleisen der musikalischen Erfindung: »Ich habe versucht, ›konkrete Musik‹ [musique concrète] zu schreiben, aber ich war dafür nicht begabt. Aber ich glaube, auf andere Art und Weise einen Weg gefunden zu haben: indem ich nämlich in die Natur ging und dem Gesang der Vögel zuhörte. Das hat mir erlaubt, mich zu erneuern, Neues in meinen melodischen Linien, meinen Kontrapunkten, meinen Klangfarben und meiner Orchestrierung zu finden … Ich habe also die Vögel gewählt – andere den Synthesizer. Letzten Endes sind das alles Mittel, die die Ästhetik, die Auffassung und das Denken verändern können.«9 Christoph Delz Für den früh verstorbenen Christoph Delz (1950-1993), das dritte und letzte Beispiel, war seine Klangumgebung, und zwar nicht nur die natürliche, sondern auch die menschenproduzierte technische der Städte mit ihren komplexen Klängen und Rhythmen, wichtige Inspirationsquelle für sein Komponieren. Die entsprechenden Kompositionen nannte er »Transkompositionen«. Beispiele wären Siegel für acht Blasinstrumente und Schlagzeug op. 3 (1976), dessen musikalisches Material von Insekten, insbesondere Zikaden mit ihren verschiedenen Varietäten, inspiriert war,10 Die Atmer der Lydia für Orchester op. 5 (1979-80) oder auch Im Dschungel. Ehrung für Rousseau den Zöllner für großes Orchester op. 6 (1981-82). Damit diese Klangwelt aber Musik werden konnte, bedurfte es ebenso der Übersetzung der Klänge in die Instrumentenwelt des Orchesters wie ihrer Einbindung in einen musikalischen Zusammenhang, den der Komponist als Autor verantwortete. Wichtigste Funktion dieser Klangwelt war, die Imagination zu stimulieren und die – wie Delz es ausdrückte – »instrumentenspezifische Mechanik« des herkömmlichen Orchesterklangs zu überwinden. Die Umsetzung der Klänge aus der Umwelt in den musikalisch-instrumentalen Kontext vollzog sich, um es am Beispiel von Im Dschungel zu illustrieren, nicht einfach ad hoc, sondern in einem genau kontrollierten Prozess. Delz arbeitete hier auf der Grundlage von einzelnen kurzen Tonband-Takes mit Aufnahmen von Klängen aus zweierlei Quelle: zum einen aus der Welt der Tierlaute und Naturgeräusche und zum anderen aus der Volksmusik Afrikas, an der ihn faszinierte, wie viel versteckte oder offensichtliche Zusammenhänge mit den Umweltklängen der jeweiligen Landschaft der Herkunft bestehen. Die einzelnen Aufnahmen wurden zunächst hinsichtlich ihrer Charakteristika beschrieben. Soweit brauchbar und musikalisch viel versprechend, erarbeitete der Komponist anschließend zusammen mit einzelnen Instrumentalisten experimentierend, häufig unter Verwendung ungewöhnlicher Spieltechniken, musikalische Klangversionen, die hinsichtlich aller Klangaspekte präzise notiert wurden. Auf diese Weise entstand ein Katalog von Klangmaterial. Da Naturgeräusche wie Donnergrollen, prasselnder Regen oder heulender Wind und auch viele Tierlaute eine charakteristische innere zeitliche Struktur aufweisen, hat man es bei diesem Material mit mehr oder weniger umfangreichen, zum Teil auch mehrschichtigen Klangpatterns zu tun. An Tierlauten und -klängen umfasst der Katalog solche, um nur einige zu nennen, von Löwe, Tiger, Leopard, Puma, Elefant, Nashorn, Büffel, Gnu, Hyäne, Schakal, Schimpanse, Pavian über Vögel wie Papagei, Beo, Eule, Käuzchen, Kranich, Flamingo oder auch unspezifizierte Vogelgruppen bis hin zur Grille als dem einzigen Insekt und zu einem Meeressäuger wie dem See-Elefanten oder dem flugunfähigen Meeresvogel Pinguin. Schon diese Aufzählung von Tieren, die allzu offensichtlich nicht alle im Dschungel, sondern wie Löwen oder Zebras in der Savanne oder die Pinguine gar in der Antarktis, immerhin aber alle in der südlichen Hemisphäre zuhause sind, macht klar, dass es sich beim Titel des Werkes um eine Metapher handelt. Sie bezieht sich offenbar weniger auf die Herkunft der verwendeten Klänge als auf die Faktur der Musik: das Undurchdringliche, das Labyrinthische, die Überlagerung verschiedener Schichten etc. Die Angaben zum Gebrauch von einzelnen Instrumenten in verschiedenen notierten Patterns lassen erkennen, dass es Delz nicht um eine fixe Zuordnung eines Instruments zu jeweils einem Tier ging. Vielmehr stand die Klangwirkung, welche der Vorlage möglichst nahe kommen sollte, im Vordergrund des Interesses. Ein Beleg dafür ist auch eine separate »Vogelsammlung « (Delz) mit allen Elementen aus den verschiedenen Takes, die sich auf Vögel beziehen. Je nach Stimmlage der Vogelstimme und der entsprechenden Klangcharakteristik sind die einzelnen Klangfolgen unterschiedlichen Blasinstrumenten zugewiesen. Es ist anzunehmen, dass auch zu anderen Tiergruppen einmal vergleichbare Sammlungen existierten, die aber offenbar nicht erhalten sind. • 22